Berlinale: Digital und trotzdem verstörend

09.03.2021

Die 71. Berlinale kürte ein freches, absurdes rumänisches Drama zum Sieger. Wir sprachen mit dem Regisseur Radu Jude.

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Interview von: Matthias Greuling

Viele Filme gab es diesmal im Kino nicht zu sehen: Wegen der Corona-Pandemie wurde die Berlinale in diesem Jahr rein digital abgehalten. Und am Ende stand mit dem rumänischen Regisseur Radu Jude ein mehr als verdienter Sieger fest. Sein schräges Zeitkommentar „Bad Luck Banging or Loony Porn“ wurde von der Jury zum besten Film gekürt und erhielt den Goldenen Bären. Ein privat gefilmter Porno steht am Anfang des Films. Es ist ein radikales Stück über seine Heimat Rumänien, insbesondere über Bukarest und seine zusehends verrohende Gesellschaft, wie Jude im Interview erklärt. Eine Lehrerin, die aufgrund ihres privaten Pornos ins Kreuzfeuer der Eltern gerät, weil der Film im Internet landet, dient Jude dabei nur als Rahmen für eine größere Abrechnung mit einem Land, das nach dem Ende des Ceausescu-Regimes vom Kapitalismus überrollt wurde – mit fatalen Folgen.

Sie zeigen einen Porno zu Beginn Ihres Films Ein Auftakt als Knalleffekt?

Radu Jude: Nein, der Porno kam erst sehr spät im Schnittprozess an den Anfang des Films. Das hatte strukturelle Gründe: Eigentlich wollte ich den Porno in das Zentrum der Geschichte stellen. Aber dann war klar, dass der Zuschauer von Beginn an diese Sexszenen mit den nachfolgenden abgleichen können soll. Daraus ergibt sich eine völlig andere Bewertung dieser Lehrerin. So zwinge ich das Publikum in die Rolle der Eltern, die diese Lehrerin nun verurteilen. Der Zuschauer wird ebenfalls zum Richter.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Film als Triptychon aufzubauen?

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Das Kino ist ein Mittel, um über die Welt mit spezifischen Werkzeugen nachzudenken. Die Kamera, die Montage, die Form des Films, seine Architektur und Komposition, das sind für mich essenzielle Dinge. Ich hatte viele Zugänge, diesen Film zu strukturieren. Einer war, ihn wie ein kubistisches Gemälde aussehen zu lassen, also wo man etwa die Nase an Stelle des Auges hat, der Mund liegt auf der Stirn, die Ohren beim Mund. Der Zuschauer muss sich dieses Bild dann erst selbst zusammensetzen, es involviert ihn mehr als in glatten Dramaturgien. Das Triptychon hat sich schließlich als passende Form herauskristallisiert. Der Anfang des Films ist sozusagen seine geografische Verortung in Bukarest. Die Stadt ist keine Abstraktion, sondern ein Spiegelbild von uns. Man sieht, wie die Menschen zueinander sind. Der zweite Teil ist wie ein Notizbuch, fast schon poetisch, wenn ich hier etwas angeberisch sein darf. Der dritte Teil ist der Dialog-Teil, ein Tribunal, bei dem die Lehrerin sich vor den Eltern verantworten muss. Das ist jetzt sehr skizzenhaft gesagt, und jeder kann darin etwas anderes sehen, aber für mich war es die bestmögliche Struktur.

Viele Filmemacher vermeiden es, in ihren Geschichten die Corona-Maske zu zeigen, um zeitlosere Filme zu machen. Sie nicht. Sind Filme also Porträts ihrer Zeit?

Ja, natürlich! Das ist mir überaus wichtig! Ich will, dass sich die Zeit abbildet, in der der Film gedreht wurde. Ich kann die Filmemacher nicht verstehen, die meinen, sie müssten Filme drehen, die für die Ewigkeit Gültigkeit haben, und daraus jede zeitliche oder lokale Strömung entfernen. Ich bin wirklich der Verfechter eines Kinos, das die Zeit atmet. Das den Raum und die Gesellschaft abbildet. Wenn ich einen polnischen Film sehen will, dann sollte es polnischer Film sein, und nicht ein Film aus Polen, der aussieht wie ein amerikanischer Horrorfilm. Verstehen Sie? Zugleich entkommt man seiner Geschichte nicht: Wer sich heute Science-Fiction-Filme aus den 1950er Jahren ansieht, der sieht vor allem Filme über die 50er Jahre und keine Filme über die Zukunft.

„Bad Luck Banging or Loony Porn“ zeigt das alltägliche Leben in Bukarest, das voller Aggression zu sein scheint. Die Menschen hier gehen regelrecht brutal miteinander um.

Diese Aggressivität ist an der Tagesordnung, überall. Was auf der Hand liegt: Das gesunde, menschliche Miteinander wurde zuerst zerstört durch die Diktatur der Kommunisten. Diese Diktatur hat das Misstrauen der Menschen zu einander erhöht, denn jeder, der nett zu einem war, könnte ja auch ein Polizeispitzel sein, der einen aushorchen will. Als nach der Revolution 1989 die Demokratie Einzug hielt, wurden die Dinge nur mehr noch schlimmer. Jeder wollte damals die Individualität leben, die vom Kapitalismus propagiert wurde. Jeder war nur mehr sich selbst der Nächste, andere sind egal und können sterben. Das ist die Mentalität heute.

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Ceausescus gigantischer Palast ist auch Teil des Films. Ein Mahnmal für alle Rumänen?

Eher Kitsch. In den 90ern wollte man ihn sprengen. Irgendjemand wollte daraus einmal eine überdimensionierte Shopping Mall machen. Jetzt ist er das Parlament. Gleich dahinter errichtet man derzeit gerade die größte orthodoxe Kathedrale Europas. So hat man den totalitären Kitsch gleich neben dem religiösen Kitsch. Letzterer gemacht in einer Zeit der Freiheit, und er ist dennoch genauso grauslich wie Ceausescus Palast.

Welche Rolle spielt die Bildung? Ihr Film kritisiert das ja.

Wir züchten uns eine narzisstische, egoistische Gesellschaft heran. Ich bin selbst Vater zweier Kinder, ich war bei vielen dieser Meetings mit Eltern und Pädagogen. Individualisierung ist das Zauberwort: Die meisten Eltern wollen alles für ihr Kind, sind aber nicht bereit, gemeinschaftlich zu denken. Hauptsache, das eigene Kind kriegt Privatstunden, wenn es das Geld gibt, damit es später besser geht. Jeder arbeitet nur an dieser Optimierung. Dadurch bleiben andere Dinge auf der Strecke. Zum Beispiel die Kunsterziehung. Die ist nicht notwendig für die Höhere Schule. Also interessiert es die Eltern nicht. Mathe und Grammatik und Englisch sind wichtiger. Das ergibt eine Jugend, die vielleicht die Mathe- und Grammatik-Regeln kennt – und nicht einmal das kennt sie -, aber sie versteht keine Kunst, keine Kultur, keine Geschichte. Die Jugendlichen sind Analphabeten. Sie sind nicht vorbereitet, Bürger dieses Landes zu werden.

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